Zwischen Sandkasten und Stacheldraht
Geschrieben von: Frankfurter Allgemeine Zeitung   
Freitag, den 07. Oktober 2011

 

Im Frankfurter Frauengefängnis können Mütter mit ihren Kindern zusammenleben. Manche finden dort sogar eine Art Ersatzfamilie

Von Maria Fiedler

© Röth, Frank
Familienleben hinter Mauern: Bänke sollen auf den Hof wenigstens für ein wenig Gemütlichkeit sorgen.

 

"Ich war kurz davor, mir das Leben zu nehmen", sagt Lea Winter. Sie erzählt von der Zeit, in der sie ohne ihre Kinder in Untersuchungshaft saß. Mit ihren zehn Monate alten Zwillingen Mark und Sophie sitzt sie auf dem Spielplatz des Frankfurter Frauengefängnisses. Vor dem Grau der hohen Mauern leuchten die bunten Spielgeräte. Wenn Winter spricht, schiebt sie mit ihrem Fuß den Kinderwagen vor und zurück. Die junge Frau berichtet, dass sie wegen Raubes mit schwerer Körperverletzung festgenommen worden sei. Sie habe kein Geld gehabt, sei arbeitslos gewesen. Als sie die Tat mit einer Komplizin beging, habe sie die Kinder einfach ausgeblendet. "Wenn ich die Zeit zurückdrehen könnte, würde ich es nicht wieder tun", sagt sie und hebt Mark aus dem Kinderwagen.


Lea Winter, die eigentlich anders heißt, ist eine von sechs Frauen, die im geschlossenen Vollzug des Mutter-Kind-Heims im Frankfurter Frauengefängnis ihre Haftstrafe verbüßen. Mit ihren beiden Kindern wohnt sie in einer geräumigen Zelle mit Wickeltisch, Kinderbett und einer Kiste voller Spielzeug. Die Wände sind in warmem Orange gestrichen. Im Erdgeschoss des Heimes, dessen Fenster unvergittert sind, sich aber nicht öffnen lassen, gibt es eine Küche und mehrere Spielzimmer. Ähnlich sieht es im offenen Vollzug des Mutter-Kind-Heimes aus. Die acht Frauen, die in dem separaten Gebäude untergebracht sind, dürfen tagsüber für einige Stunden das Gefängnisgelände verlassen, um zu arbeiten oder Besorgungen zu erledigen. In dieser Zeit werden die Kinder in der Tagesstätte des Mutter-Kind-Heimes betreut.


Für Lea Winter ist das Muttersein noch neu. Mit sanftem Schaukeln versucht sie, den quengelnden Mark zu beruhigen. Die 23 Jahre alte Gefangene sieht sehr jung aus mit ihren offenen dunkelblonden Haaren und den Sommersprossen auf der Nase. Wenn sie lacht, kommen ein Zungenpiercing und eine kleine Lücke zwischen den Schneidezähnen zum Vorschein. Doch Winter lacht selten.


Es sei ein harter Kampf gewesen, Sophie und Mark zu sich ins Gefängnis zu holen, sagt sie. Die Entscheidung über die gemeinsame Unterbringung mit ihren Kindern in der Justizvollzugsanstalt lag beim Jugendamt. Mit ihrem Sachbearbeiter geriet Winter jedoch immer wieder aneinander, wie sie sagt. Erst nachdem sie einen anderen Sozialarbeiter bekam, klappte es mit der Zusage für das Mutter-Kind-Heim und das Jugendamt bewilligte die Tageskosten von 76 Euro je Kind. Auch die Gefängnisleitung überprüfte anschließend den Antrag. Dabei spielt vor allem eine Rolle, ob andere schwebende Verfahren eine Haftverlängerung erwarten ließen. Denn nur wenn die Mutter zur Einschulung ihres Kindes entlassen werden kann, wird der Platz im Mutter-Kind-Heim bewilligt. Anfang März zog Winter ins Mutter-Kind-Heim - zunächst allein. Einen Monat später folgte Tochter Sophie. "Ich habe es erst wirklich geglaubt, als ich sie dann endlich wieder im Arm hatte", sagt Winter. Ihren Sohn Mark konnte sie erst Mitte April zu sich holen, weil er wegen eines Leistenbruchs im Krankenhaus lag.


"Ohne meine Kinder würde ich es im Gefängnis nicht aushalten", sagt die Zwillingsmutter. Damals, als sie in Untersuchungshaft saß und sich umbringen wollte, sei sie vor Sorge fast umgekommen. "Ich wusste nicht, wo sie sind, ob es ihnen gutgeht und ob sie genug zu essen bekommen." Mark und Sophie waren bei einer Pflegefamilie, doch Winter erfuhr keinen Namen, keinen Ort. Nervlich sei sie am Ende gewesen, erinnert sich die junge Frau. Sie habe kaum noch gegessen, sei abgemagert und habe ausgesehen "wie frisch von der Straße". Doch auch im Mutter-Kind-Heim ist es nicht immer einfach. "Hier prallen die unterschiedlichsten Schicksale aufeinander, sagt Vollzugsleiter Klaus Hermes. Frauen aus verschiedenen Nationen mit unterschiedlichen Temperamenten und Erziehungsstilen lebten zusammen auf engem Raum. Da komme es ab und an zu Streit um Essen und Lärm und um Erziehung. "Wenn eine Mutter meint, ihrem Kind eine Ohrgeige verpassen zu müssen, mischen sich die anderen Frauen schon mal ein."


Trotz kleinerer Schwierigkeiten  ist das Mutter-Kind-Heim in Hermes' Augen eine sinnvolle Einrichtung. Gäbe es sie nicht, hätten die Kinder während der Haft der Mutter in eine Pflegefamilie gemusst. Kämen sie dann später wieder zu ihrer leiblichen Mutter zurück, hätten diese ständigen Beziehungsabbrüche nicht selten psychische Schäden zur Folge. Deshalb sei es oft das Beste für das Kind, gemeinsam mit der Mutter im Gefängnis zu wohnen - auch wenn das die Mütter manchmal in Erklärungsnöte bringe.


"Hast du jemanden gehauen?", fragt Sarah Lenz' Sohn sie manchmal. Die 28 Jahre alte Frau, die ihren echten Namen nicht in der Zeitung lesen will, muss dann schlucken. Sie sitzt wegen Mitwisserschaft an versuchtem Mord seit mehr als fünf Jahren im Frankfurter Frauengefängnis. Anfangs noch im geschlossenen Teil des Mutter-Kind-Heimes, seit zwei Jahren ist sie im offenen Vollzug. Dort arbeitet sie tagsüber in der Küche des Mutter-Kind-Heimes. Wenn die blonde Frau mit ihrer Schürze am Herd steht, sieht sie zufrieden aus. Ihr Sohn ist dann gerade in der Kindertagesstätte. Er ist noch zu klein, um zu verstehen, was seine Mutter getan hat. Doch dass die beiden nicht in einem normalen Wohnhaus leben, weiß der fünfjährige Max schon. Lenz hat es ihm erklärt, dass Kinder, wenn sie unartig sind, manchmal Hausarrest bekommen. Und dass das bei Erwachsenen genauso sei. Auch Max' Vater sitzt im Gefängnis.


Als Vollzugsleiter Hermes den Spielplatz des Mutter-Kind-Heimes betritt, stürmt ein kleiner blonder Junge auf ihn zu. "Herr Hermes!" ruft er mit heller Stimme. Hermes wirbelt ihn durch die Luft, der Junge strahlt. "Als Mann ist man hier sehr beliebt", sagt der Gefängnisbeamte. Die meisten Kinder seien Jungs, viele hätten zu ihren Vätern kaum noch Kontakt.


Das enge Verhältnis zwischen Kindern und Vollzugsbeamten hat jedoch auch Schattenseiten. Sarah Lenz macht sich Sorgen darüber, wie es ihrem Sohn gehen wird, wenn die beiden aus dem Gefängnis ausziehen. "Für ihn ist das hier sein Zuhause", sagt Lenz. Die Erzieherinnen, Beamten und Köchinnen seien während der vergangenen fünf Jahre seine Ersatzfamilie geworden. Draußen ist die Zukunft ungewiss. Obwohl Lenz zusätzlich zu ihrer Ausbildung als Arzthelferin im Gefängnis noch eine Kochlehre gemacht hat, war sie bisher bei der Jobsuche erfolglos. "Hartz IV beantragen kommt aber auf keinen Fall in Frage" sagt. sie. Lenz will nicht aufgeben, schon allein wegen ihres Sohnes.


Auch Zwillingsmutter Winter fühlt sich ihren Kindern gegenüber verpflichtet und hat ein schlechtes Gewissen. "Solange ich hier im Gefängnis bin, kann ich ihnen die Welt nicht zeigen." Die Kleinen könnten sich weder an den Straßenverkehr noch an Supermärkte und die Menschen in der Stadt gewöhnen. Dem Vater ihrer Kinder, den sie nach der Haftentlassung heiraten will, hätte sie die Zwillinge trotzdem nicht anvertrauen wollen. "Die Kinder gehören zu ihrer Mutter."


Schlimm wird es für Winter, wenn ihre Kinder krank sind. Als Mark vor einigen Wochen ins Krankenhaus musste, konnte sie nicht bei ihm sein. "Ich fühlte mich, als hätte ich ihn im Stich gelassen." Sie hofft, dass sie bald entlassen wird. Vielleicht schon im April nächsten Jahres. Dann will sie als Erstes mit Mark und Sophie in den Zoo.